Einen Charakter zu erschaffen, der originell ist und dem Zahn der Zeit standhält, ist eine der schwierigsten, aber auch eine der grundlegendsten Aufgaben einer Comiczeichnerin, eines Comiczeichners oder von AutorInnen. Viele Anhaltspunkte werden zwar über die ursprüngliche Idee geliefert, doch darüber hinaus muss man sich an jeder Abzweigung auf dem Weg zum eigenen Comic neue Gedanken zu den eigenen Figuren machen.
Wie schon in Lektion 2 angesprochen, bedarf es einiger Faktoren, die eine gute Idee ausmachen – Story, Setting und Design neben Originalität und dem Spiel mit Genre-Konventionen, um nur ein paar zu nennen. Ein Hauptpunkt aber, der die Leser immer wieder zurück zu den Geschichten bringt, sind die Charaktere, die sie bevölkern. Auch hier kann man mit bereits Dagewesenem spielen und „seine“ Version bekannter Figuren liefern, denn es gibt bestimmte Grundstrukturen, Tropen sozusagen, nach denen man sich richten kann, ohne in ein Klischee zu verfallen (der Übergang mag allerdings fließend sein). Diese typischen Charaktere kann man dann auch ins Gegenteil verkehren oder durch ungewöhnliche Einfälle erweitern.
Beispiele für typische Comic-Charaktere
- Der Supermann: Ein Klassiker im Comic. Der Alleskönner ist quasi unbesiegbar, was allerdings seine Einsetzbarkeit in Geschichten einschränkt. Die Umkehrung wäre zum Beispiel ein böser, ein trotteliger oder ein brutaler Supermann oder nur jemand, der sich dafür hält.
- Der Komiker: Eine Figur, die immer einen munteren Spruch auf den Lippen hat. Hierbei muss man aufpassen, ihm genügend Charakterstärke und Persönlichkeit zu geben, damit der Komiker nicht einfach nur ein Witz bleibt.
- Die schöne Gefährliche: Auch als Femme Fatale bekannt. Kann als Heldin eingesetzt werden oder als Gegenspielerin oder auch beides.
- Der Stille: Effizient und gefährlich, sagt diese Figur selten etwas und nur dann, wenn es zählt. Lässt eher Taten sprechen.
- Der Drahtzieher: Tritt selten selbst in Erscheinung, manipuliert aber andere Charaktere
- Der Außenseiter: Von allen unverstanden, aber die Leserschaft kann mitfühlen – ein Charakterzug, der auch in anderen Archetypen und Tropen zu finden ist.
Natürlich gibt es einen Batzen mehr Figuren, die einmal mehr und einmal weniger ins Detail gehen (man kann auch von „dem Helden“ oder „dem Bösen“ sprechen, ebenso wie von „dem heroischen, aber trotteligen Space-Captain“ oder „dem unverstandenen, verbitterten und bösen Herrscher aus dem All, der zu Zynismus neigt“), ganz zu schweigen von all jenen vermenschlichten Tieren, die sich im Laufe der Geschichte der Comics eingefunden haben.
Am Besten ist es natürlich immer, wenn einem eine Geschichte unter den Nägeln brennt: Etwas, das dringend erzählt werden will, mit Figuren, die einem am Herzen liegen. Und auch hierbei kann man aus einem großen Fundus an archetypischen Charakteren und Situationen schöpfen, aus seiner eigenen Erfahrung oder aber sich etwas völlig Neues und Eigenes ausdenken. Man muss sich als Zeichner (und natürlich auch als Autor) aber immer grundsätzlich auf bestimmte Dinge einigen:
- Setting/Genre
- Geschlecht der Figuren
- Namen der Charaktere
- angestrebte Wirkungsweise
Charakterentwicklung: Schritte und Entscheidungen
Über die Vor- und Nachteile verschiedener Settings und Genre-Zuordnungen haben wir beim letzten Mal ja schon gesprochen, hier sei nur noch einmal kurz erwähnt, dass man sich mit den gewählten Attributen der Story soweit auseinander setzen sollte, dass man überzeugend in seinem Genre arbeiten kann oder weiß, wann man die Kriterien ändern muss. Ganz klar können die Genres auch sinnvoll miteinander verwoben werden: Ein Space-Western wurde schon einige Male gemacht, ebenso wie die Verknüpfung von Science Fiction und Krimi/Thriller (gerne „Neo Noir“ genannt oder als Teil des Cyberpunk). Gerade wurde recht drollig bewiesen, wie viktorianische Literatur mit Zombies funktioniert und Teenie-Romanze geht mit Horror nicht erst seit „Buffy“, „Angel“ und „Twilight“ Hand in Hand. Die Wahl des Genres oder der Kombination gibt dann meistens auch Aufschluss über das Setting (spielt die Story zum Beispiel auf einer Raumbasis, in Manhattan, unter dem Meer oder in einer anderen Zeit?).
Das Geschlecht der Figuren ist wesentlicher, als man annehmen könnte: Es ergeben sich nämlich nicht nur wechselnde Designelemente und andere Ansprüche an die Zeichner, sondern dadurch wird auch die Story selbst beeinflusst. Eine Heldin ist in der Regel zu anderen Dingen fähig, als der Held und anders herum. Außerdem werden unterschiedliche Personenkonstellationen möglich, der Ton der Geschichte kann sich ändern und völlig andere Fragen können angegriffen werden. Eine Entscheidung für oder gegen ein Geschlecht kann aber auch ganz konkrete, zeichnerische Aspekte mit sich bringen: Wenn man Männer nicht so gut zeichnen kann, mag es sinnvoll sein, diese besonders viel zu üben und entsprechend sich mit den Charakteren vertraut zu machen. Anderen Zeichnern liegen Frauen als Comic-Figuren nicht so sehr – nichts ist dann besser, als sich eingehend mit der Anatomie in verschiedenen Situationen und Posen zu beschäftigen und vielleicht entsteht daraus ja eine Geschichte.
Die Namen der Charaktere geben Lesern schon von Beginn an einen Eindruck über die Handlungsweisen und die Ausrichtungen der Figuren. Ein „Gumbo Fröhn“ wird vermutlich nicht der große Weltenbezwinger sein, sondern womöglich der lustige Sidekick, „Starcrusher Henderson“ klingt doch schon eher wie ein Comic-Held (oder ein Wrestler). Erschafft man einen Superhelden, steht häufig die Fähigkeit Pate für den Namen: Schießen Blitze aus den Fingern, wäre irgendetwas wie „Electro-Man“ oder „Short Circuit“ denkbar, kann er fliegen wäre leicht ironisierend „Die Eintagsfliege“ ganz lustig. Reale Namen sind schon etwas komplizierter, hier muss man sich auf das Gehör verlassen: Klangvolle, nicht abgedroschene Namen gehen besser, wobei man immer darauf achten muss, a) keine existierenden Namen zu verwenden und b) dass der Nachname zum Vornamen passt.
Wege zur eigenen Comicfigur
Zwei kleine Anekdoten an dieser Stelle: George Orwell nannte seinen Protagonisten aus „1984“ Winston Smith, weil er meinte, dass die beiden Namen nicht zusammen passten und Stan Lee gab seinen Figuren regulär Namen mit gleichen Anfangsbuchstaben (Peter Parker, Reed Richards, Bruce Banner), um sie sich besser merken zu können.
Nicht uninteressant ist auch die angestrebte Wirkungsweise: Möchte man ein episches Abenteuer erzählen oder eine komische Geschichte? Oder vielleicht beides? Oder etwas ganz anderes? Auch daran kann sich die Erschaffung eines Comic-Charakters orientieren. Tatsächlich müssen die meisten dieser Punkte miteinander korrespondieren, damit den Figuren Leben eingehaucht wird – und vor allem muss man die Story erzählen, denn auf dem Weg dorthin können sich etliche Male einige Dinge ändern, klarer werden oder komplett die Richtung wechseln.
Wir werden in der nächsten Lektion die Richtung noch einen Moment beibehalten und uns ansehen, welche Rolle Nebencharaktere in einer Geschichte haben können – denn auch wenn die Vorgehensweise ähnlich zu den Hauptfiguren ist, nehmen sie doch oftmals ganz entscheidende Positionen ein, die nur ihnen vorbehalten sind.
In diesem Sinne, viel Spaß beim Zeichnen!
Super Beitrag. Würde gern mehr Beitraege zu der Thematik lesen. Ich freue mich schon auf die naechsten Posts.